Mi país imaginario
Im Oktober 2019 führt die Erhöhung der Metropreise in Santiago de Chile zu unerwartet heftigen sozialen Protesten. Eineinhalb Millionen Menschen finden zusammen, um in den Strassen für Demokratie, ein gerechteres Bildungs- und Gesundheitssystem und eine neue Verfassung zu demonstrieren. So vielfältig die Forderungen, so divers sind auch die Demonstrierenden, besonders laut erklingen die Stimmen und Sprechgesänge der Frauen. Mit Erfolg: Die Verfassung der Militärdiktatur wird gekippt und die Frauen stellen in der aktuellen Regierung die Mehrheit.
Werkangaben
- Regie
- Patricio Guzman
- Drehbuch
- Patricio Guzmán
- Produktion
- Alexandra Galvis, Renate Sachse
- Kamera
- Samuel Lahu
- Schnitt
- Laurence Manheimer
- Musik
- José Miguel Tobar, Miguel Miranda
- Land, Jahr
- CL/FR 2022
- Dauer
- 83 Minuten
- Verleih
- Trigon-Film
- Altersempfehlung
- 12
Auszeichnungen
- 2022
- Jerusalem Film Festival: Best Documentary
Filmografie
- 1971
- Primer Año
- 1975
- La Batalla de Chile: La insurrección de la burguesía
- 1977
- La Batalla de Chile: El golpe de estado
- 1979
- La Batalla de Chile: El poder popular
- 1997
- Chile, la memoria obstinada
- 2004
- Salvador Allende
- 2010
- Nostalgia de la luz
- 2015
- El botón de nácar
- 2019
- La Cordillera de los sueños
- 2022
- Mi país imaginario
Zitat
Das höchste Lob und das grösste Verdienst gilt der Hartnäckigkeit der Frauen. Ihnen überlässt Guzmán auch die Parole. Aus der Unbedingtheit ihrer Worte werden das Ausmass und die Konsequenzen der erlittenen Ungleichheit erkennbar.
Thierry FrochauxP.S. Zeitung, 2022
Kommentare
Tatsächlich war Chile die wachstumsstärkste Volkswirtschaft auf dem Kontinent, etabliert allerdings auf dem Terrain tiefer sozialer Ungleichheit. [...]
Chile, so kommentiert [Guzmán] in Mi país imaginario, «ist mir bei meinen Besuchen immer vorgekommen wie ein Supermarkt, dessen Schaufenster nicht zeigten, was dahinter liegt». Dreissig Jahre lang. Und dann plötzlich der Brand. Nur: Es gebe Flammen, die zerstörten, und solche, die nährten, sagt eine seiner klugen, von todernstem Optimismus strotzenden Gesprächspartnerinnen – mit Fug alles Frauen! Der Film, ein Kaleidoskop von Chronik und Reflexion, zeigt hautnah, wie schwer das auseinanderzuhalten ist und wie wichtig, es dennoch zu tun.
Guzmán hält sich an dieses Nährende der Flamme: den sich Bahn brechenden politischen Wandel weg von der «exzessiven Elitisierung der Politik, Machtkonzentration und Exklusion» in Chile, wie eine seiner Gewährsfrauen es zusammenfasst. Ein immenses kollektives Gefühl neu erlangter Würde durchzieht als Grundstrom den so sanft erzählten Film. Stets werden die apokalyptischen Szenen vom Aufruhr zurückgebunden und ist der Blick suchend hingewendet zum kreativen Aufbruch, der eine bessere Zukunft für das Land verspricht – «mi país imaginario» eben.
Martin WalderNZZ, 10.10.2022
Kommentare
Guzmán zeigt die Strassenkämpfe, verschweigt auch die zahlreichen Opfer der Staatsgewalt nicht, sucht aber immer wieder die Aufbruchstimmung der Revolte und das kreative Potenzial, das sich etwa im Gedicht eines Frauenkollektivs manifestiert, das hundertstimmig erklingt, oder in den Mauern, die mit Protestbildern bemalt werden und damit immer mehr ansteckt. Die Rebellion ist nicht nur jung, sondern auch feministisch, das spiegelt Guzmán in seinem Film wider, indem er fast ausschliesslich Frauen zu Wort kommen lässt.
Zahlreiche Aktivistinnen, Analystinnen und Sympathisantinnen machen deutlich, dass aus dem anfänglichen Prozess eine Bewegung wurde, die verstanden hat, dass sozialer Fortschritt nur möglich ist, wenn patriarchale Strukturen überwunden werden und alle Teile der chilenischen Gesellschaft Teilhabe an demokratischen Entscheidungen haben.
Guzmán ist, wie viele andere, nach Pinochets Militärputsch 1973 geflohen und lebt seitdem im französischen Exil. Seine alte Heimat hat ihn nie losgelassen, Chile ist immer wieder Thema seiner essayistischen Dokumentarfilme. [Sein letzter, La Cordillera de los sueños aus dem Jahr 2019, handelt vom Gestein der chilenischen Anden und deren vielschichtige Rolle in der wechselvollen, oft gewalttätigen Geschichte des Landes.
In seinem neuen Film tauchen die Steine wieder auf, nun in den Händen der Protestierenden, die sie als Wurfgeschosse gegen ihre Unterdrücker verwenden. Guzmáns dokumentarisches Schaffen ist eine Auseinandersetzung mit seiner Heimat aus der Ferne, und bei aller authentischer Repräsentation auch immer ein Stück weit Vorstellung, Phantasma. [...] Es ist ein hoffnungsvoller Blick auf Chile, die Begeisterung für die junge Bewegung ist immer wieder mitreissend. Und er zieht interessante Parallelen zum politischen Frühling der Reformen Allendes ein halbes Jahrhundert zuvor.
Thomas AbeltshauserTaz, 13.04.2023