Aftersun
Als Sophie elf Jahre alt ist verbringt sie in den späten 90er Jahren mit ihrem Vater Calum einen traumhaften Urlaub in der Türkei. Da sie nur sehr wenig Zeit miteinander verbringen, genießt Sophie die Auszeit mit ihrem liebevollen Vater umso mehr. Während seine Tochter die Schwelle zum Teenageralter überschreitet, scheint Calum unter der Last des Lebens zu leiden, die über seine Rolle als Vater hinausgeht.
Werkangaben
- Regie
- Charlotte Wells
- Drehbuch
- Charlotte Wells
- Produktion
- Adele Romanski, Amy Jackson, Barry Jenkins, Mark Ceryak
- Kamera
- Gregory Oke
- Schnitt
- Blair McClendon
- Musik
- Oliver Coates
- Besetzung
- Paul Mescal (Calum), Frankie Corio (Sophie), Celia Rowlson-Hall (adult Sophie)
- Land, Jahr
- UK/US 2022
- Dauer
- 102 Minuten
- Verleih
- Outside the Box
- Altersempfehlung
- 12
Auszeichnungen
- 2022
- British Independent Film Award: Best Film, Best Director, Best Screenplay, Best Cinematography, Best Editing
- 2022
- Deauville Film Festival: Grand Special Price, Critics Award
- 2022
- Munich Film Festival: Best Film by an Emerging Director
Filmografie
- 2015
- Tuesday (Kf/cm)
- 2017
- Blue Christmas (Kf/cm)
- 2017
- Laps (Kf/cm)
- 2022
- Aftersun
Kommentare
Man könnte es sich leicht machen und Aftersun als eine Art Coming-of-Age-Film beschreiben, indem man sich lediglich an das Geschehen hält. Sophie steht in der Tat an der Schwelle zur Pubertät: Mit neugierigen Blicken verfolgt sie das Treiben der älteren Jugendlichen am Pool und kommentiert Zungenküsse mit abgeklärter Coolness. Aber all das ist nur ein Flimmern am Rande. Der schottischen Regisseurin Charlotte Wells geht es in ihrem von schwebender Schwere erfüllten Film um etwas anderes.
Sowohl der entschleunigte Rhythmus von Aftersun als auch Details wie der eingegipste Arm des Vaters und das Alter von Sophie erinnern unwillkürlich an Sophia Coppolas Somewhere von 2010. Auch dieses Drama handelt von einem depressiven Vater, der sich fast schon verzweifelt an das unbekümmerte Leben seiner Tochter klammert, während er irgendwie versucht, ein guter Papa zu sein. Und auch in diesem Film dominiert die Ereignislosigkeit. Doch wo Coppola die Vater-Tochter-Beziehung in eine minimale Handlung übersetzt und das Drama mit einem lakonischen Blick auf die sich entleerende Starmaschinerie Hollywoods verknüpft, bleibt die Perspektive bei Wells inwendig, einem Nachglühen der Erinnerung gleich. [...]
Aftersun soll weder ein sommerliches Urlaubsgefühl nostalgisch verklären, noch hat der Film eine wirkliche Handlung. Zumindest dann nicht, wenn man darunter grosse, dramatische Ereignisse versteht. Vielmehr ist der gesamte Film Ausdruck eines dramatischen Gefühls. Wells komponiert einen intensiven Zustand des Erinnerns, der einen deshalb so berührt, weil immer ein Rest Zweifel und ein Funken Ahnung bleibt: Ist der Vater depressiv gewesen? Hätte Sophie als Elfjährige etwas tun können? Liegt in diesem Urlaub der Ursprung ihrer eigenen Traurigkeit? [...]
Mal sind Tochter und Vater im selben Bild, ganz nah und doch so unendlich voneinander entfernt, auf Abstand gehalten durch jene Wand, die das Badezimmer vom Schlafraum trennt. Beide sind einsam wie zwei Planeten, die manchmal zärtlich kollidieren. Nur in diesen hoffnungsvollen Momenten vergessen beide, dass sie in zwei getrennten Räumen einer Erinnerung festsitzen.
Sebastian SeidlerZeit.de, 19.12.2022
Zitat
Aftersun ist das Film gewordene Gefühl einer sich Erinnernden, ein langsamer Abschied vom Vater und zugleich der Aufbruch in ein neues Leben. Die Bilder, die Wells dafür findet, sind von atemberaubender Schönheit. Komponiert aus Alltäglichkeiten fügen sich Trauer, Zweifel und Liebe zu vielflächigen Gemälden zusammen.
Sebastian SeidlerZeit.de, 19.12.2022
Charlotte Wells beschreibt den erzählerischen Zugang ihres Films als «nicht per se autobiografisch, aber gefühlt». Die Grenzen zwischen Erlebtem und Erinnerung sind durchlässig, und über jedem Moment mit den beiden unerklärlich grossartigen Schauspieler:innen schwebt eine deutliche, aber kaum zu benennende Melancholie. Vielleicht liegt das daran, dass diese nicht so sehr der Gegenwart in diesem Ferienresort zu entspringen scheint als vielmehr der Zukunft, in der sich die erwachsene Sophie an die Zeit mit ihrem Vater erinnert.
Ohnehin ist in Aftersun nie ganz klar, welche Zeit jetzt die ursprüngliche oder gegenwärtige sein soll. Wahrscheinlich ist es jene, in der Calum selbstvergessen zu farbigen Stroboeffekten ohne Musik, aber laut atmend ins Nirgendwo tanzt, oder jene der wabernden Reflexion im Swimmingpool während Sophies erstem Kuss. Das Schönste an der Wirklichkeit ist immer noch, dass sie dereinst zu Erinnerung wird – und dort frei erzählt werden kann.
Dominic SchmidWoz, 23.03.2023