Saint Omer

Vorstellung vom
  • Regie: Alice Diop
  • FR, 2022
  • 122 Minuten
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Saint Omer

Das Unfassbare passiert: Laurence Coly, eine junge Frau aus dem Senegal, legt ihr 15 Monate altes Baby ins Meer. Der Säugling stirbt. In der nordfranzösischen Stadt Saint Omer soll Coly der Prozess gemacht werden. Mord oder nicht – das ist die Frage. Zunächst. Im Gerichtssaal sitzt auch eine andere junge Frau: Rama. Die aus Paris angereiste Professorin und Schriftstellerin stammt ebenfalls aus dem Senegal. Sie identifiziert sich mit der Angeklagten und will eine Reportage über den Prozess schreiben. Das Verfahren beginnt, und nach den ersten Aussagen wird klar, dass nichts klar ist. Wer sitzt hier wirklich auf der Anklagebank? Und wie schnell fällen wir ein Urteil im Angesicht unvorstellbarer Taten?

Werkangaben

Regie
Alice Diop
Drehbuch
Alice Diop, Amrita David, Marie NDiaye
Produktion
Toufik Ayadi, Christophe Barral
Kamera
Claire Mathon
Schnitt
Amrita David
Musik
Thibault Deboaisne
Besetzung
Kayije Kagame (Rama), Guslagie Malanda (Laurence Coly), Valérie Dréville (la juge), Aurélia Petit (Maître Vaudenay), Xavier Maly (Luc Dumontet), Robert Cantarella (l’avocat général), Salimata Kamate (Odile Diatta), Thomas de Pourquery (Adrien)
Land, Jahr
FR, 2022
Dauer
122 Minuten
Verleih
Cineworx

Zitat

Dieser Film beleuchtet die Ränder eines Abgrunds. Er lässt das Unerklärliche unerklärt und zeigt fast alles darüber hinaus.

Katja Nicodemus
Die Zeit, 9.3.2023

Kommentare

Gerichtsdramen verhandeln nicht nur die Frage von Schuld und Unschuld, Lüge und Wahrheit. Die Kamera ermittelt auf ihre Weise, sie legt offen, was dem Rechtssystem und der Sprache der Justiz entgeht. In dem Film «Saint Omer» begibt sich die Kamera auf die Spuren einer modernen Medea. Laurence Coly, eine Kindsmörderin senegalesischer Herkunft, steht vor Gericht – und mit ihr die französische Gesellschaft. […]
Sie hoffe, ihre Tat durch den Prozess zu verstehen, sagt Coly. Die Kamerafrau Claire Mathon gibt Colys stehenden Auftritten einen spannungsvollen Rahmen, einen filmischen Gedankenraum, in dem die Angeklagte auch mit sich selbst in Verhandlung treten kann. Mit ihrer Tat und mit dem, was ihr widerfuhr. Ihr Blick ist kaum auszuhalten, denn er wirft unseren Blick zurück.

Katja Nicodemus
Die Zeit, 9.3.2023

Tatsächlich ist der Zugang in diesem Spielfilm ein dokumentarischer: Das Faktische ist hier nicht Rohstoff für Fiktionalisierung, sondern Material einer Erkundung. Diop, die an der Sorbonne Geschichte studiert und sich als Regisseurin von Dokumentarfilmen einen Namen gemacht hat, bleibt nah am Fall der Fabienne Kabou. Wie diese ist im Film Laurence Coly aus dem Senegal nach Frankreich gekommen, um in Paris zu studieren. Sie verliert den Halt, sucht Zuflucht in der Beziehung zu einem um Jahrzehnte älteren Franzosen. Er wird Vater des Kindes, das wie im Fall Kabou ein Mädchen und ein «bébé métisse» ist: Elise, genannt Lili, mit Schwarzer Mutter und weissem Vater. Und auch wie im Fall Kabou tritt die Angeklagte eloquent auf, wählt ihre Worte sorgfältig und selbstbewusst. Es sind Verschiebungen, die den Stoff vom Fall Kabou abheben und diesen zugleich präsent halten: Aus Saint-Omer wird «Saint Omer», gefilmt wurde im tatsächlichen Gerichtssaal von Saint-Omer, der im Film aber nicht Schauplatz von Rechtsprechung wird. Anstelle der Urteilsverkündung folgen auf die Prozessverhandlungen Standbilder eines leeren Gerichtssaals. Etwas anderes hat sich ereignet. […]
Tatsächlich zeichnet «Saint Omer» in Laurence das Bild einer Frau, die auf Schwellen steht: nicht hier und nicht dort, da und nicht da, eine «femme fantôme», wie es im Prozess einmal heisst. Und diese Schwellen sind konkret, denn «Saint Omer» erzählt auch die Geschichte der von kolonialer Vergangenheit und rassistischer Deklassierung gezeichneten Biografien, wie sie die Mütter und die Töchter in diesem Film alle prägen. Warum nur habe die Angeklagte partout über Wittgenstein ihre Doktorarbeit schreiben wollen, empört sich eine Dozentin, die als Zeugin vor Gericht auftritt. Warum nicht über etwas, das ihrer eigenen Kultur entstamme. Vielleicht ist in dieser Platzanweisung die Verhexung zu finden, von der die Angeklagte spricht, wenn es um ihre Sinne geht. Doch auf dieser Schwelle, wo sie nicht eingelassen und doch da ist, lässt sie auch die Situation kippen und zwingt alle, die Frage zu ergründen, die an sie gerichtet worden ist: Warum? Sagt ihr es mir.

Caroline Arni
WOZ, 2.3.2023

Auszeichnungen

2022
Festival 2 Valenciennes: Prix du jury
2022
Festival du film de Gand: Grand Prix du meilleur film
2022
Mostra de Venise: Lion d’argent, Prix Luigi De Laurentiis
2022
Prix Jean-Vigo: Meilleur film
2022
Prix Louis-Delluc: Meilleur film
2023
César : Meilleur premier film

Filmografie

2006
La tour du monde (doc)
2007
Les Sénégalaises et la Sénégauloise (doc)
2011
La mort de Danton (doc)
2016
La permanence (doc)
2016
Vers la tendresse (doc)
2021
Nous (doc)
2022
Saint Omer