W. – Was von der Lüge bleibt

Vorstellung vom
  • Regie: Rolando Colla, Thomas Ott
  • CH 2020
  • 111 Minuten
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W. – Was von der Lüge bleibt

Sonntag, 5. Februar: in Anwesenheit des Regisseurs

Das Buch Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939–1948 schlug international hohe Wellen – sowohl als es erschien, wie auch als sich später herausstellte, dass die angebliche Autobiografie erfunden war. Der Berufsmusiker Bruno Wilkomirski beschrieb in seinem 1995 erschienenen Werk seine frühste Kindheit in einem Konzentrationslager. Er erhielt Preise, war als Zeitzeuge und Experte weitum gefragt. Nachdem vier Jahre später bekannt wurde, dass es sich bei Bruchstücke um eine Art Lebenslegende handelt, beharrte er zunächst auf der Richtigkeit seiner Erinnerungen. Dann zog er sich zurück und äusserte sich nicht mehr öffentlich – bis jetzt.

Werkangaben

Regie
Rolando Colla, Thomas Ott
Drehbuch
Rolando Colla
Produktion
Elena Pedrazzoli, Josef Burri, Urs Augstburger, Emanuele Nespeca, Alessandro Leone, Assaf Amir
Kamera
Rolando Colla, Maciej Tomkow, Gabriel Lobos, Reinis Aristovs, Nir Bar, Sandra Gomez
Schnitt
Rolando Colla
Musik
Bernd Schurer
Land, Jahr
CH 2020
Dauer
111 Minuten
Verleih
Filmcoopi

Zitat

« Das ist die grosse Stärke [des Films]: dass er seine Geschichte für sich sprechen lässt.
Die bietet Spannung und Verwirrung genug, die Zurückhaltung des Filmemachers lässt ihr genügend Raum,
um sich in ihrer ganzen Komplexität auszubreiten. »

Oliver Camenzind
Filmbulletin, 12.11.2020

Kommentar

Diese Geschichte klingt so unglaublich, dass sie passiert sein muss. Und doch ist sie eine faustdicke Lüge. Im Jahr 1995 erscheinen beim Jüdischen Verlag von Suhrkamp die autobiografischen Erinnerungen eines Juden, der als kleiner Junge die Konzentrationslager Majdanek und Auschwitz überlebt hatte. Deren Urheber, Binjamin Wilkomirski, wird weltweit für seine authentischen Kindheitserinnerungen gefeiert, mit Lob und Literaturpreisen bedacht, er erhält Einladungen als Zeitzeuge in Schulen, auf Podien.

Wenige Jahre später stellt sich heraus, dass der Inhalt seines Buchs Bruchstücke nicht erlebt, sondern erdichtet ist. Wilkomirski war nie in einem Konzentrationslager inhaftiert, er kam 1941 als uneheliches Kind namens Bruno Grosjean in Biel auf die Welt. Die Öffentlichkeit ist schockiert. Dabei hat es in der Kulturszene Gerüchte und auch konkrete Warnungen gegeben, etwa vom früheren NZZ-Feuilletonchef Hanno Helbling. Doch niemand wagt, das laut auszusprechen, was man für undenkbar hält.

Zwanzig Jahre nach der Enthüllung wirft der Zürcher Regisseur Rolando Colla mit seinem Dokumentarfilm W. – Was von der Lüge bleibt erneut Licht auf die Affäre, mit Archivaufnahmen, Gesprächen mit den Beteiligten und an den Schauplätzen. Dabei tut er es Ibsens Peer Gynt gleich: Er legt beim Häuten der Zwiebel nach und nach die einzelnen Schichten frei. Mit jeder weiteren wird schmerzhaft bewusst, dass auch die ganze Wahrheit keinen Kern kennt.

Üblicherweise legen Dokumentationen den Fokus darauf, komplexe Vorgänge zu reduzieren, damit es uns Zuschauern leichter fällt, die Welt zu verstehen. Bei W. – Was von der Lüge bleibt verhält es sich genau andersherum: Je tiefer wir in diese Geschichte eintauchen, desto mehr spüren wir, wie wenig wir wissen und wie viel es noch zu erfahren gäbe. In fünf Kapitel ist der Film unterteilt. Immer wenn man glaubt, nun habe man das ganze Ausmass verstanden, blättert sich noch eines auf.

Dem Zürcher Regisseur geht es dabei nicht um ein moralisches Urteil, sondern um Erklärungsversuche für einen Fall, der mit der Verurteilung als blosse Lüge zu kurz abgetan wäre. Da ist zuerst Brunos schwere Odyssee zwischen Waisenhaus, Pflegefamilien und einem Bauernhof, wo der Bub wohl misshandelt wurde. Ein Schlüsseltrauma, das direkt mit entsprechenden Beschreibungen aus Bruchstücke korrespondiert. Visuell werden die Episoden mit den scharfkantigen Schwarz-Weiss- Animationen des Zeichners Thomas Ott kontrastiert. […]

Colla lässt in seinem aufwendigen Film sehr viele Menschen auftreten, dreht unter anderem in Polen, Israel, den Vereinigten Staaten. Etliche Protagonisten zeigen sich nach wie vor betroffen, wütend. […] Der Tenor: Es sei eine unverzeihlich dreiste Anmassung, die Opfer der Shoah für die Bewältigung der eigenen Lebensgeschichte zu missbrauchen. Sicherlich, dem ist nicht zu widersprechen. Und doch ist auch der berechtigte Zorn nur ein Mosaikstein in dieser Geschichte. […] 

Ganz am Ende, wenn auch dem Zuschauer angesichts dieser ganzen Wahrheitsvolten der Kopf schwindelt, drehen sich die Gäste eines Kurhotels ausgelassen zu fröhlicher Partymusik. Nur ein alter Mann steht einsam abseits und hält sich an seinen Krücken fest, ehe er hinter sich schliessenden Aufzugstüren verschwindet. Es ist eine unglaubliche Geschichte, die nur Verlierer hinterlässt.

Tobias Sedlmaier
NZZ, 12.11.2020

Filmographie

2020
W. – Was von der Lüge bleibt
2019
Quello che non sai di me
2016
Sette giorni
2012
Das bessere Leben ist anderswo
2011
Giochi d’estate
2002
Oltre il confine